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AutorenbildJo Fabian

Erinnern - ein Werkzeug, Wissen zu vernichten



Wir können uns erinnern an das, was wir erlebt haben und an das, was wir gelernt haben.

An das, was wir gesehen haben und das, was wir wissen. Beide Erinnerungen sind um so unvollständiger, je weiter das Erlebte, oder das einmal Gewusste zurückliegt in der Zeit. Die Zeit dünnt die Vollständigkeit unserer Erinnerung aus. Wir gebrauchen Erinnerung in den meisten Fällen so, als ob es um die Vollständigkeit der Daten ginge. Lexika und Fotoalben beispielsweise gelten uns als Hilfsmittel, diese Vollständigkeit zu erhalten. Der Berg an Informationen, der auf diese Weise im Laufe unseres Lebens anwächst, ist so hoch, das wir unter seiner Last immer wieder neu zusammenbrechen. Und jeder Tag, jede Stunde läßt unendlich viele neue Informationen dazu kommen. Adäquat zu den neuen Informationen, müssen ältere abgesondert, ausgeschieden, oder besser: vergessen werden.

Ein natürliches "Sieb", nennen wir es mal: ALZHEIMER LIGHT, sorgt dafür, das wir den Kollaps aller Eindrücke umgehen. Und so wird das Vergessen zu einer Funktion, die uns vor Überlastung schützt. Kein Erinnern ohne Vergessen.


Das Gehirn ist das am wenigsten erforschte Gebiet und niemand weiß, durch welche Art von Algorithmus entschieden wird, welche Informationen aufbewahrenswert sind und welche nicht. Wir gehen davon aus, das jene, die in Verbindung mit unserer emotionalen Erlebnisfähigkeit aufgenommen wurden, länger zur Verfügung stehen, als jene, die vollkommen losgelöst von ihr in unser Bewusstsein gelangten. Dabei reden wir noch nicht einmal von jenen, die nur in unser Unterbewusstsein gelangen und dort eine stille Ablagerung erfahren.


Wenn wir uns für einen Augenblick von der Idee abwenden würden, das das Ziel des Erinnerns die Vollständigkeit der Information wäre und wir das unvollständige Wissen, sowie die unvollständige Erinnerung an das Erlebte als Werkzeug begreifen könnten, so würde schlagartig klar, das wir dieses Werkzeug einsetzen können, um uns an Situationen zu erinnern, die wir gar nicht erlebt haben. Und im Prinzip machen wir das auch. Wir können uns Geschichte auf diese Art und Weise vorstellen, die sich weit ausserhalb unseres Erlebnis- und Wissensbereichs befand oder befinden wird. Wir können uns an Vergangenheit, wie an Zukunft erinnern, vor und nach unserer eigenen biologischen Lebenszeit. Berichte aus dem dreissigjährigen Krieg können uns durch die Zusammensetzung von unvollständigem Wissen und unvollständiger Erinnerung an selbst Erfahrenes, eine emotionale Erfahrung auslösen, die fortan zu unserem wirklichen Erleben gehört und jederzeit als Erinnerung aufgerufen werden kann.


Das Unvollkommene an unserer Erinnerung besteht also nicht in der lückenhaften Wiederherstellung erfahrener Ereignisse, sondern in ihrer noch unzulänglichen Benutzung als Werkzeug.

Die objektive Vollständigkeit von Zeit und Raum wird unhinterfragt als unsere "Geschichte" angenommen. Quellen, Belege und Erinnerungen sind allerdings unvollständig. Die Lücken werden durch vorstellbare, abgeleitete, oder manipulierte Informationen geschlossen. Im Prinzip durch Wissenschaft und Religion. Auf diese Art und Weise wird gleichzeitig die Bedeutung von Geschehnissen in der Vergangenheit, durch die Aufbewahrung selbst festgelegt. Dabei gehen wir sehr narrativ vor. Aufbewahrt wird all das, was wir glauben, das es geschehen ist. Die Datenmenge all der Ereignisse, die nicht geschehen sind, ist einfach zu gewaltig und scheint unserem Denken auch nicht als sinnfällig vertraut zu sein. Nichts desto trotz, haben diese Ereignisse der "negativen Wirklichkeit" einen nicht unerheblichen Einfluss auf unsere Geschichte genommen. Wir kennen sie im Aufbewahrungszustand nur als Scheitern.


Die Lückenhaftigkeit unserer Erinnerung ist nicht das Problem. Es ist ganz im Gegenteil die Voraussetzung für das Tätigwerden der Phantasie unter Einbeziehung unserer Empfindungen, um uns ein eigenes Bild der Vergangenheit, oder der Zukunft zu erpuzzeln. Es wird dadurch nicht wahrer und es bleibt auch objektiv unvollständig, aber es wird auf diese Weise zu der Erfahrung, die unser Handeln bestimmt und uns leitet in dem, was wir tun und dem, was wir nicht tun.


Nützlich wäre ein Werkzeug Erinnerung gerade zum Beispiel dann, wenn wir in dem Jahrhundert angekommen sind, indem wir unser Wissen vernichten müssen, um uns besser entwickeln zu können. Gerade und nicht trotzdem ist die Schule ein guter Ort für diese notwendige Praxis… nur noch nicht heute!

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